Gastrointestinale Stase bei Kaninchen und Nagetieren
World Small Animal Veterinary Association World Congress Proceedings, 2010
Hanspeter W. Steinmetz, Dr. med. vet. M.Sc.; Marcus Clauss, PD Dr. med. vet. DECVCN; Jean-Michel Hatt, Prof. Dr. med. vet., DACZM, DECZM (Avian)
Zürich, Switzerland

Lesen Sie die englische Übersetzung: Gastrointestinal Stasis in Rabbits and Rodents

Einleitung

Erkrankungen bei Kaninchen und Nagern weisen häufig einen direkten Zusammenhang mit der Fütterung auf. Aber auch viele Erkrankungen ausserhalb des Verdauungstraktes haben indirekt oder direkt einen Einfluss auf den Gastrointestinaltrakt, entweder durch Schmerzen, Inaktivität, reduzierte Futter- oder Wasseraufnahme. Fütterungsprobleme, Krankheiten oder Anorexie führen oft zu einer reduzierten Motilität des Gastrointestinaltraktes, welche innerhalb kurzer Zeit zu einem ernsthaften Problem werden. Das vorliegende Manuskript soll eine kurze übersicht über die Pathophysiologie, Diagnose, Prävention und Behandlung der gastrointestinalen Stase bei Kaninchen und Nagern geben.

Anatomie3,7

Kaninchen und die verschiedenen Nager haben aufgrund ihrer unterschiedlichen Verdauungstrakt-Anatomie und -Physiologie unterschiedliche Ansprüche an ihre Fütterung. Der Magen-Darm (MD)-Trakt von Kaninchen und Stachelschweinverwandten (z.B. Meerschweinchen, Chinchilla und Degus) verbindet einen einhöhligen Magen mit Blinddarm- Fermentation und einen komplexen Sortierungs -Mechanismus, der es den Tieren erlaubt die schwer verdauliche pflanzliche Nahrung besser auszunutzen. Während der Ruheperiode scheiden die Tiere den sogenannten Blinddarmkot (Caecotrophe) aus, den sie nach der Ausscheidung sofort wieder vom Anus aufnehmen und verschlucken. Diese Tiere sind Foli-/ Herbivor und benötigen einen grösseren Anteil an Rohfasern in ihrer Diät für eine physiologische Verdauung und einen normalen Zahnabrieb. Dagegen sind Mäuseverwandte (Ratte, Maus, Gerbil, Hamster) und Hörnchenverwandte an eine Körnerdiät angepasst und haben ein kleineres Caecum. Zusätzlich besitzen Kaninchen und Stachelschweinverwandte permanent wachsende Zähne (Schneide- und Backenzähne) im Gegensatz zu den Mäuse- und Hörnchenverwandten , die nur ein limitiertes Wachstum der Backenzähnen aufweisen. Die beschriebenen anatomischen und Fütterungs-Unterschiede können das Vorkommen der gastrointestinalen Stase bei Kaninchen und Stachelschweinverwandten erklären.

Pathophysiologie1,3,8

Die gastrointestinale Stase ist eine lebensbedrohliche Erkrankung von Kaninchen und Stachelschweinverwandten. Dabei ist die MD-Peristaltik reduziert und es kommt zu einer gefährlichen Verschiebung der bakteriellen MD-Flora. Durch die reduzierte MD-Peristaltik verbleiben aufgenommene Haare und Futterbestandteile im MD-Trakt liegen. Bakterien wie Clostridium -Spezies können sich plötzlich stark vermehren und die normale MD-Flora verdrängen. Die unphysiologische Flora kann Endotoxine und/oder Gase bilden. Folgend kommt es zur MD- Tympanie mit Verstopfung und starken abdominalen Schmerzen, was die Aktivität des Tieres nochmals reduziert und es dadurch die Futteraufnahme komplett einstellt. Zusätzliche lebensbedrohliche Komplikationen treten durch einen Endotoxin- Schock und Leberschäden auf. Die hepatische Lipidose ist eine Gefahr bei jedem Kaninchen oder Nager, der nicht mehr frisst.

Klinik3,5-7,9

Initial ist bei der gastrointestinalen Stase reduzierter Appetit zu beobachten. Die Tiere sind lethargisch und zeigen oft starke Schmerzen. Die Tiere produzieren sehr kleine (oder keine) Kotbällchen, welche sehr trocken oder mit klaren gelblichem Schleim überzogen sind. Blähungen können die Stase begleiten. Während der Auskultation sind die normalen Darmgeräusche durch lautes und heftiges Gurgeln ersetzt oder es sind keine Peristaltik- Geräusche mehr auskultierbar. Die abdominale Palpation ist meist sehr unangenehm und die Tiere sind verspannt und zeigen Schmerzen. Der Magen ist v.a. im fortgeschrittenen Stadium meist als harte Masse hinter den Rippen, und der Darmtrakt ist als teigiger Schlauch im weiteren Verlauf spürbar. Die Tiere zeigen einen aufgekrümmten Rücken und verkriechen sich meist in einem geschützten Teil des Geheges. Rasch tritt eine Dehydrierung ein. Bemerkenswert ist bei Chinchillas das Auftreten von Tenesmus und Rektumprolaps sekundär zu der gastrointestinalen Stase.

Diagnostik2,5,7,8

Basierend auf den klinischen Befunden ist die gastrointestinale Stase meist eine Verdachtsdiagnose, die mit radiologischen und ultrasonographischen Untersuchungen bestätigt werden kann. Die röntgenologische Untersuchung ist häufig schwierig zu beurteilen, weil die Differenzierung zwischen normalen MD-Inhalt und blockierter Ingesta mit Haaren schwierig zu unterscheiden ist. Normalerweise haben anorektische Tiere einen kleinen, mit wenig Inhalt gefüllten Magen. Bei der gastrointestinalen Stase sind bei der radiologischen Untersuchung ein mit Gas und Ingesta vergrößerter Magen, sowie gasgefüllte Därme zu erkennen. Ein halbmondförmiger Gasschatten im Magen ist verdächtig für einen Trichobezoar, welcher v.a. durch eine reduzierte Motilität verursacht wird. Die ultrasonographische Untersuchung wird durch grössere Gasansammlungen zusätzlich erschwert, doch ein wichtiger Hinweis für eine reduzierte Motilität des Gastrointestinaltraktes ist ein atonischer Gastrointestinaltrakt, welcher aussergewöhnlich viel Ingesta enthält. Eine hämatologische und eine Blut-biochemische Untersuchung können zur Einengung der Diagnose sehr hilfreich sein, sowie wichtige Informationen für Prognose und Therapie geben. Eine lipämische Blutprobe oder hyperglykämische Werte, kombiniert mit einer Ataxie, sind eine wichtiges Anzeichen für eine hepatische Lipidose und verschlechtern die Prognose des Tieres. Ein Hämatokrit höher als 40-45% ist ein Anzeichen einer Dehydratation. In schweren Fällen sind auch die Elektrolyte von den Referenzwerten stark abweichend.

Prävention1,3,7,10

Rohfasermangel durch fehlendes Heu, ist wohl die häufigste Ursache der gastrointestinalen Stase. Heu ist für gesunde Zähne und eine normale Gastrointestinal- Motilität und -Funktion notwendig. Eine gesunde Diät basiert auf Heu, frischem Grünfutter, Wasser und Pellets. Das Heu und das Grünfutter sollten das Tier mit genügend Energie und Kalzium versorgen, sowie Rohfasern für einen gesunden physiologischen Verdauungsprozess und genügenden Zahnabrieb liefern und damit eventuelle Trichobezoare vorbeugen. Die Tiere decken ihren Wasserbedarf hauptsächlich über frisches Trinkwasser und zusätzlich, jedoch nicht ausschliesslich, durch frisches Grünfutter. Vitamine und Mineralstoffe werden durch Pellets und Grünfutter aufgenommen. Die Fütterung sollte auf 75% Rauhfutter basieren. Sauberes Trinkwasser muss ad libitum angeboten werden. Für eine genügende Wasseraufnahme werden offene Trinkgefässe empfohlen, die wegen der potentiellen Verunreinigung täglich gereinigt und frisch gefüllt werden müssen. Nippeltränken bergen die Gefahr einer ungenügenden Wasseraufnahme. Alle Früchte, Körner und verschiedene Gemüsearten mit hohem Zuckeranteil (z.B. Karotten) werden nicht zur Fütterung von Kaninchen und Stachelschweinverwandten empfohlen. Zusammenfassend sollte die gesunde Fütterung einen hohen Rohfaseranteil aufweisen und Wasser muss ad libitum angeboten werden.

Therapie3-7,9

Die gastrointestinale Stase bei Kaninchen und Nagern ist eine Notfallsituation. Neben dem primären Problem im Gastrointestinal- Trakt, können sich sekundäre Probleme, wie eine hepatische Lipidose, sehr schnell entwickeln und müssen mit einer intensiven Therapie vorgebeugt werden. Das Ziel der Therapie ist es, den Appetit wiederherzustellen, Elektrolyt -Imbalanzen und eine Dehydrierung zu korrigieren, die Entleerung des Magens zu stimulieren, die gastrointestinale Motilität zu unterstützen und das zusammengepresste Futter aufzuweichen und gleitfähiger zu machen. Initiale Notfallmaßnahmen sind Flüssigkeitstherapie, Reduzierung der Gase im MD- Trakt, Analgetika und Zwangsfütterung. Viele betroffene Tiere sind dehydriert oder leiden an Elektrolyt- Imbalanzen, daher ist die Rehydrierung des Patienten wahrscheinlich der wichtigste Teil der Therapie. Die intravenöse oder subkutane Verabreichung von Ringer-Laktat-Infusionen ist notwendig um den MD-Inhalt aufzuweichen. Zusätzlich wird die gastointestinale Stase begleitet von Blähungen im Magen und Darm, und es sollten Antitympanika (Simethicone 65-130 mg/Tier po q 1h) verabreicht werden um den abdominalen Druck und die Schmerzen durch die Tympanie zu reduzieren. Bei starken Blähungen muss eventuell eine Magenschlundsonde unter Allgemeinanästhesie gesetzt werden, um den Magen zu entgasen.

Analgetika sind bei Kaninchen und Nagern zur erfolgreichen Genesung von entscheidender Bedeutung. Sie reduzieren den durch die gastrointestinale Stase verursachten Schmerz. Dies wiederum resultiert in einem aktiveren Tier, das früher wieder zu fressen beginnt und damit auch gleichzeitig die MD -Motilität fördert. Meloxicam (0.2-2mg/kg po, sc q 24h) und Carprofen (2-5mg/kg po, sc q 24h) sind häufig eingesetzte NSAID. Flunixin- Meglumin (0.3-2.0mg/kg po, im, iv q 12-24h) wird auch gut toleriert, obwohl es bei einigen Tierarten Magenulzera auslösen kann. Daher sollte die Verabreichung auf drei Tage beschränkt werden. Spasmoanalgetika (0.5-1mg/kg Butylscopolamin sc q 12-24h) können zu reduzierter MD -Motilität führen, und sollten daher vorsichtig eingesetzt werden. Die gleichzeitige Therapie mit einem MD -Stimulans (Metoclopramid 0.2-1.0mg/kg po, sc q 6-8h) zeigte jedoch gute Erfolge, vorausgesetzt eine mechanische Obstruktion konnte ausgeschlossen werden.

Anorexie bei Kaninchen und Nagern führt rasch zu einem Ungleichgewicht in der sensiblen MD- Flora, Magengeschwüren und einer hepatischen Lipidose. Daher sollten die Tiere mit einem speziellen Heuprodukt (eg. Critical Care, Oxbow Pet Products; Herbi Care Plus, WDT) zwangsgefüttert werden, wodurch dem MD- Trakt die nötigen Fasern zugeführt wurden und eine positive Energiebilanz angestrebt wird. Frischer Ananassaft oder proteolytische Enzyme werden zur Auflösung der Trichobezoare empfohlen. Zusätzlich können Bewegung oder Bauchmassagen die MD Motilität fördern. Die systemische Verabreichung von Antibiotika, (z.B. Enrofloxazin 10mg/kg q 12h-24h) wird kontrovers diskutiert. Es wird jedoch empfohlen, die Antibiotika besser subkutan als peroral zu verabreichen. Wichtig ist es jedoch auch die Ursache der gastrointestinalen Stase zu identifizieren und zu korrigieren (z.B. Zahnerkrankungen, Fütterung). Die chirurgische Therapie ist selten indiziert. Die Erholung ist langsam und benötigt meist mehrere Tage bis Wochen mit einer Hospitalisierung und intensiver Betreuung.

References

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Speaker Information
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Hanspeter W. Steinmetz, Dr. med. vet., MSc
University of Zürich
Zürich, Switzerland


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