Präventionsprogramm: Organisation, Beurteilung, Neues Konzept
World Small Animal Veterinary Association World Congress Proceedings, 2010
Colette Pillonel, Dr.med.vet., Verhaltenstierärztin ENVF
Renens, Suisse

Lesen Sie die englische Übersetzung: Dog Bite Prevention Programme: Organisation, Evaluation, New Concept

Aufstellen Eines PAB (Prevent-a-Bite) = BVP (Bissverhinderungsprogramms)

Das PAB-Team setzt sich im Idealfall aus 3 Personen und 3 Hunden unterschiedlicher Größe und Farbe zusammen, mindestens aber aus 2 Personen und 2 Hunden. Es ist wichtig, dass sich die einzelnen Personen kennen und gegenseitig in ihren Aktionen mit den Kindern ergänzen. Das PAB-Team wird von einer Person mit pädagogischer Erfahrung (Lehrer/in Kindergärtner/in, spezialisierten Lehrer/in, ...) geleitet. Der Gruppenleiter muss ebenfalls gute Kenntnisse vom Hundeverhalten haben, und dieses richtig interpretieren können. Er muss fähig sein schnell und wirkungsvoll in Stress-Situationen zu handeln, zudem muss er eine gute Beobachtungsgabe (für Kinder wie auch für Hunde und deren Führer) und Improvisationstalent haben. Die Hundeführer des PAB-Team sollen über Erfahrung im Umgang mit Hunden verfügen und ihren eigenen Hund in jeder Situation unter Kontrolle haben. Sie müssen die Körpersprache ihres Hundes richtig lesen und interpretieren können, seine möglichen Verhaltensweisen und Reaktionen kennen, sowie Stresssituationen für den Hund erkennen. Und er muss vor allem auch gerne mit Kindern arbeiten! Die Hundeführer des PAB-Team müssen für die Kinder ein Vorbild für Verhalten und Benehmen sein; sie müssen selbstsicher sein, ein ausgeglichenes Verhältnis zu ihrem Hund haben und ohne Zwang oder Härte arbeiten.

Die Hunde des PAB-Teams sollten folgenden Kriterien entsprechen: ausgewachsen/erwachsen, gesund (Rücken, Hüften, Augen, Gehör, ..., parasitenfrei), sozial-kompetent, ausgeglichen im Verhalten gegenüber Menschen und anderen Hunden, sowie an Kinder gewöhnt. Sie sollten selbstsicher und gut erzogen sein, und durch ihren Führer bei Begegnungen mit Kindern oder anderen Hunden einfach kontrolliert werden können (ruhig bleiben, zuverlässig, abwartend, fähig Stress zu ertragen). Die Beisshemmung der PAB-Team-Hunde muss einwandfrei sein. Sie zeigen kein unerwünschtes Verhalten, wie zum Beispiel spontanes Anspringen von Personen, auch nicht zur Begrüßung. Hunde, die aggressive Verhaltensweisen gegenüber Kindern gezeigt haben, sind auszuschließen, selbst wenn das Verhalten durch die Situation zu rechtfertigen ist (z.B. Misshandlung).

Test für PAB--Hunde

Der Test für PAB-Hunde ist ein Eignungstest, wobei es sich nicht um einen Verhaltenstest handelt. Bei diesem Fähigkeitstest wird das " Hund-Hundeführer"--Tandem evaluiert. Es wird geprüft, ob der Hund fähig ist in einer Schulklasse mit Kindern und anderen Hunden zu arbeiten. Bis heute wurden ca. 150 Hunde getestet. Die Erfahrungen zeigen, dass der Test sich für die Selektion eignet; er wurde nicht validiert.

Effektivität der Präventionsprogramme

Die Effektivität der verschiedenen Präventionsprogramme ist in der Schweiz nicht einfach zu beurteilen, obwohl eine sehr grosse Arbeit geleistet worden ist. Es beruht einerseits auf der Tatsache, dass die Programme nicht in allen Kantonen einheitlich verfolgt und durchgeführt worden sind und anderseits auf der Tatsache, dass kein epidemiologischer Follow-up der Beissunfällen eingeführt wurde, weder auf Bundes--noch auf Kantonsebene.

Zum Thema Effektivität der Präventionsprogramme für Kinder gibt es leider nur wenige Studien, deren Methodologie von guter Qualität ist. In einer kürzlich publizierten Cochrane--Studie3 wurden nur zwei randomisierte Studien erwähnt, welche eine Vor- und Nachkontrolle nachweisen konnten; die Schlussfolgerung war, dass bei Kindern, die jünger als 10 Jahre alt sind, mittels gezielter Ausbildung ihre Kenntnisse, ihr Verhalten und ihre Haltung dem Hund gegenüber verbessern.

In der Schweiz wurden zwei Studien über die Effektivität von Präventionsprogrammen durchgeführt. Die erste Studie befasst sich direkt mit dem PAB-Programm1, die zweite Studie untersucht das Wissen von Hundehaltern über die Gefährlichkeit einiger Situationen.2.

Beurteilung der Pam-Programme in der Suisse Romande1

92 Kinder in 2 Gruppen unterteilt, haben einen Fragebogen (Q-PAM) zu Risikosituationen ausgefüllt. Der Fragebogen wurde von den Kindern dreimal ausgefüllt; das erste Mal einen Tag vor dem Programm (Vor-Test), das zweite Mal im Anschluss an das Programm (Post-Test 1) und schliesslich ein drittes Mal einen Monat nach dem Programm (Post-Test 2). Zwei Wochen nach dem Programm wurden einige Kinder aus jeweils beiden Gruppen in Interaktion-Situationen (4 verschiedene) mit einem Hund gefilmt (halbreelle Situationen). Die Filme wurden dann mit Hilfe eines Rasters beurteilt. Die Ergebnisse des Vor-Tests zeigen, dass die Kinder relativ gute Kenntnisse besitzen in Bezug auf das Verhalten, welches sie in Gegenwart eines Hundes zeigen sollen. Die Resultate der Kinder beider Gruppen sind sehr ähnlich (Mittel = 22.71 für die Experiment-Gruppe und 22.68 für die Kontrollgruppe). Indessen zeigen die Ergebnisse der Kinder in der Experiment-Gruppe im Post-Test 1 einen Anstieg der Scores (Mittel = 29.3), was einem Erfolg von 89% entspricht; die Ergebnisse der Kontrollgruppe zeigen hingegen keine Progression (Mittel = 22.8). Die gleichen Resultate sind beim Post-Test 2 festgestellt worden. Keine der berücksichtigten unabhängigen Variablen zeigt eine signifikante Korrelation mit den Resultaten der Kinder. Die Resultate in Bezug auf das Verhalten der Kinder in den halbreellen Situationen, zeigen keine signifikanten Unterschiede zwischen den zwei Gruppen. Die Kinder, die bei dem Präventions-Programm mitgemacht haben, tendieren zu einer grösseren Distanz zum Hund als die Kinder der Kontrollgruppe.

Gefährlichkeit des Hundes für das Kind: Kenntnisse der Hundehalter in der Schweiz2

Durch einen Fragebogen, der beim Tierarzt aufgefüllt wurde, wurden die Kenntnisse der Hundehalter, sowie die Quellen, deren Ausbildung und Information evaluiert. Der Fragebogen beinhaltet Fragen zur Erkennung von Risikosituationen (für den Erwachsenen und für das Kind), zur Kenntnis über die Körpersprache des Hundes (mittels Zeichnungen) und zum Verhalten in gewissen Schlüsselsituationen. Unabhängige Variablen werden berücksichtigt.

Diese Resultate sollen als deskriptiv bewertet werden, da der Fragebogen nicht validiert wurde. Sie sind aber ein gutes Indiz für das mangelnde Durchdringen der Informationen zur Prävention in der Hundehalterbevölkerung.

Entwicklung der Anzahl Bissverletzungen in der Schweiz

Die Entwicklung der Anzahl Bissverletzungen in der Schweiz ist nicht bekannt, da diese Unfälle epidemiologisch nicht untersucht werden. Die seit 2006 obligatorische Meldepflicht der Beissvorfälle widerspiegelt die Realität der Unfälle nicht4; weder was die involvierten Hunde, noch die Opfer betrifft. Die Resultate6 dieser Meldungen entsprechen nur einem Teil der Beissunfälle, da das Prinzip der Meldepflicht per se unweigerlich zu Verzerrungen (Biais)5 führt. Dazu kommt noch, dass die Daten in den verschiedenen Kantonen unterschiedlich bearbeitet werden.

Eine sinnvolle Informationsquelle für die Effizienz der Präventionsprogramme wäre ein Weiterverfolgen der Unfälle mittels der Einführung eines Kodes bei der Spitaladmission des Opfers.

Entwicklung Eines Neuen Präventionskonzept: Workshop, der Hund und Wir"

Anlässlich eines interdisziplinären Seminars zur Prävention von Unfällen in der frühen Kindheit7, hat eine Teilnehmerin ein Kind beschrieben, das in eine Reitschule, einfach nur auf sein Pony steigt, galoppiert und es einfach wieder in den Stall führt. Dabei ist aufgefallen, dass, bevor dem Kind ein Know-how (Sachkenntnis) in Bezug auf das Tier weitergegeben werden kann, ihm zuerst Sozialkompetenzen im Sinne eines "savoir être" vermittelt werden müssen. Dieses "Savoir être" ist nicht einfach nur auf das Verhalten des Kindes gegenüber einem Tier beschränkt. Sondern es ermöglicht dem Kind den Zugang zu allem was anders ist, alles was anders lebt, denkt und kommuniziert (öffnen und ermöglichen). Dieses "Savoir être" dem "Anderen" gegenüber kann eine Tür öffnen, diejenige des Respekts und der Anerkennung des Anderen. Dieses Wissen kann nicht von Know-how getrennt werden.

Diese Erkenntnis hat ein Anklang in Bezug auf Betrachtung und Entwicklung von Präventionsprogrammen für Kinder gefunden. Verschiedene Puzzle-Teile fehlten in der Beziehung Kind-Hund. Gewisse Kinder verharren bei der Kontaktaufnahme mit dem Hund auf dem Niveau des gelernten Verhaltens, sie bauen keine Beziehung auf, es entstehen keine Wechselwirkungen, so als ob das Kind dem Hund gegenüber fremd eingestellt bleibt. Und der Hund antwortet mit einer Distanz. Um eine positive Beziehung aufbauen zu können, scheinen die Präventionselemente und die Kenntnisse über den Hund nicht auszureichen; die Arbeit zum "Savoir-être" muss dem Know-how des Kindes zugeführt werden. Anderseits lässt uns die Haltung der Eltern zu den Hunden vermuten, dass die Information in Bezug auf die Prävention nicht optimal von den Kindern zu den Eltern übergeht.

Ein neues Konzept wurde entwickelt. Es richtet sich zuerst an die Erwachsenen (Eltern), in der Form eines Workshops, wo der Erwachsene selbst Interaktionen mit dem Tier üben kann. Später wird das Kind in Anwesenheit des Erwachsenen miteinbezogen. Es handelt sich dann um einen praktischen Workshop mit der Präsenz von Hunden. Wir erhoffen uns so die Erwachsenen in ein Präventionsprogramm aktiv miteinbinden zu können und ihnen ihren Teil der Verantwortung wiederzugeben. Wir können so an einem übereinstimmenden Verhalten von Erwachsenem und Kind arbeiten. Dies weil der Erwachsene (Eltern) in Sachen Verhalten häufig für das Kind die Referenz bleibt und weil neue Verhalten geübt werden sollen, bevor sie integriert werden können. Der Workshop "Der Hund und Wir" ist interdisziplinär, und findet im Beisein eines Kinderarztes und eines Tierarztes statt. Die wichtigsten Ziele des Workshops sind Beobachtung, Austausch, Kommunikation, das Lernen (Lerntheorie), so wie die Grundelemente der Prävention.

Schlussfolgerung

Risikomanagement und Prävention kann sich nicht einfach nur auf Opfer und Hunde beschränken. Sie betreffen alle Mitspieler der Hundewelt, die Risikopopulation und die medizinische Welt. Der Präventionskoffer wird Elemente für Hunde, Halter, Züchter, Hundeausbildner, Tierärzte, Ärzte, Spezialisten für Kleinkinder, Kinder und Eltern (Hundehalter oder nicht), beinhalten. Alle Elemente sind miteinander verbunden. Wird ein Glied der Kette vernachlässigt oder ignoriert, so kann das Risiko nicht optimal reduziert werden. Präventionsprogramme für Kinder reichen alleine nicht um das Risiko zu reduzieren.1,3

Es besteht ein allgemeiner Mangel an Beweisen über die Auswirkungen der Vorbeugungsprogramm bei Kindern und Jugentlichen. Es gibt einen Bedarf an qualitativ hochwertigen Studien, die Hundebissquote als Ergebniss messen.3

References

1.  Chalet S. Evaluation des programmes de prévention des accidents par morsures de chien (PAM) en Suisse Romande.Revue Suisse des Sciences de l'Education, 2008, 30(2), 367-383.

2.  Hornisberger L. Wissensstand der Hundehalter in der Schweiz zum Thema Gefährdung von Kindern durch Hunde, Inauguraldissertation, Universität Berne, 2009.

3.  Duperrex O, et al. Education of children and adolescents for the prevention of dog bite injuries.Cochrane Database of Systematic Reviews 2009, Issue 2. Art. No.: CD004726. DOI: 10.1002/14651858.CD004726.pub2.

4.  Bocion Ph. Statistique des accidents par morsure 2007 de l'Office Vétérinaire Fédéral: manque de rigueur scientifique et conclusions trompeuses.

5.  http://www.kleintiermedizin.ch/gtcd/pdf/GTCD_Defauts_des_statistiques_2007_de_l_OVF.pdf

6.  Horisberger U. Medizinisch versorgte Hundebissverletzungen in der Schweiz: Opfer-Hunde-Unfallsituationen, Inauguraldissertation, Universität Bern, 2002.

7.  http://www.bvet.admin.ch/themen/tierschutz/00760/00763/index.html?lang=fr

8.  Reinberg O. Prevention des accidents de la petite enfance, Proceeding, 2009, Lausanne (à paraître)

 

Speaker Information
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Colette Pillonel, Dr Med., Behaviourist Veterinarian, ENVF Qualified
Renens, Switzerland


MAIN : Mensch-Tierbeziehung : Präventionsprogramm
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